"Das ist ein Rauf und Runter - ohne Vertrauen geht da nichts."
Rainer Wilde könnte längst zuhause auf der Coach sitzen und nach draußen ins Grüne gucken. Aber das ist für ihn unvorstellbar. Als er es probiert hat, hat seine Frau nach einem halben Jahr zu ihm gesagt: "Geh' bloß los, such' dir wieder was!". Und das hat er getan. Er ist heute mit 75 Jahren einer der ältesten Mitarbeiter im bbw und hier einer der erfolgreichsten Jobcoachs für Langzeitarbeitslose. Im Tandem mit je einer seiner Kolleginnen ist der ehemalige Soldat, Ausbilder, Mathe-/Physiklehrer und Sozialpädagoge inzwischen quasi das A-Team des Seelower Jobcenters - spezialisiert für die besonders schwierigen Fälle zwischen arbeitslos und mutlos. Für sie steht Rainer Wilde auch 13 Jahre nach Rentenbeginn morgens diszipliniert wie eh und je auf, um acht in "seiner" Werkstatt, im Büro, bei Unternehmen oder Behörden in der Tür - je nachdem was nötig ist.
Langzeitarbeitslose aus der Inaktivität holen
Menschen, die länger als zwei Jahre arbeitslos sind, gibt es hier, nahe dem östlichen Rand von Märkisch Oderland zwar nur wenige hundert, aber dennoch mehr als in anderen Regionen Brandenburgs. Schon lange setzt das Seelower Jobcenter alles daran, die bisher nur unzureichend erschlossene Fachkräfte-Reserve aus ihrer Inaktivität zu holen und wieder auf die Beine zu stellen. Aber, gegen deren Beharrungsvermögen ist schwer anzukommen. Deshalb hatte das Jobcenter 2017 u. a. ein Programm ausgeschrieben, das seit Jahren leicht modifiziert wird und dieses Mal "Integration durch Praxis" heißt. Damit sollen bis heute innerhalb eines halben Jahres jeweils zehn Männer und Frauen schnellstmöglich wieder in Arbeit gebracht werden. Auch, weil niemand ganz genau weiß, warum sie schon über Jahre Arbeitsangeboten ausweichen, Qualifizierungschancen nicht ernsthaft wahrnehmen und teilweise sogar den Kontakt zum Jobcenter eingestellt haben. Als der Zuschlag fürs Projekt kam, war klar, dass das eine besonders anspruchsvolle Aufgabe sein würde.
Gespräche ohne Vorurteile führen
Am Anfang werden die bbw Mitarbeiter*innen von den Kursteilnehmer*innen oft noch als der lange Arm des Jobcenters gesehen, das die Teilnahme am Kurs fordert und Verweigerung mit Leistungskürzung bedroht. Das erzeugt Skepsis und Distanz. Aber, dem begegnen die drei Jobcoachs gelassen. "Wenn die Gruppe in der Anfangsphase merkt, dass wir ohne Vorurteile auf sie zugehen, offen für ihre Probleme sind und ihnen in den Gesprächen genau zuhören, bricht das Eis. Zuerst sind wir vor allem dafür da, uns auf Augenhöhe zu bringen und Mut zu machen." erklärt Elke Glatzer. Sie weiß: "Lust darauf, wieder arbeiten zu gehen, Kollegen zu haben, sich sein Geld selbst zu verdienen, kommt erst viel viel später, im Betrieb." Aber davon spricht am Anfang kaum einer. Deshalb ist die Idee sinnvoll, genau das mit praktischer Arbeit und Praktika in Betrieben, die Arbeitskräfte suchen, zu initiieren. Und es funktioniert. Das zeigen die Fakten.
Seit vielen Jahren schickt das Jobcenter Langzeitarbeitslose zu so genannten Aktivierungsmaßnahmen ins Seelower bbw Bildungszentrum, die MAEs (Maßnahmen zur Aktivierung und Eingliederung) oder Kreativ-MAEs heißen. Hinter den sperrigen Bezeichnungen steckt hier die Idee, in der Holz-, Metall- und Elektrowerkstatt gemeinsam nützliche Dinge wie Puppenhäuser, Hochbeete oder Regale zu bauen. Sie werden von der Idee bis zur Übergabe an öffentliche Einrichtungen der Region gemeinsam geplant und umgesetzt. Um von Anfang an wieder zu üben, worauf es an den meisten Arbeitsplätzen ankommt, geht es früh um acht los. "Ohne Pünktlichkeit geht das nicht", ist Rainer Wilde überzeugt. Wenn alle da sind, beginnt ein MAE-Trainingsarbeitstag mit Vorbereitungsgesprächen, Planung, Materialkauf, Sägen, Feilen, Hämmern ... Dabei können der Ausbildungsabbrecher, der antriebslose Abiturient und selbst der überforderte Mitvierziger leichter soziale Kontakte knüpfen, als auf der Straße. Jeder hat die Möglichkeit zu zeigen, was er kann, trägt seinen Teil bei, kann stolz auf sich sein. "Das schafft wieder Selbstvertrauen. Was dann oft auch gelingt", meint Petra Janiszewski. In Seelow, wo nicht einmal 6 000 Leute wohnen, kann man sich nicht aus dem Weg gehen. "Man trifft sich immer wieder. Ich freue mich natürlich, wenn es unsere Teilnehmer*innen schaffen, ihren Weg zu einem selbstständigen Leben mit Job zu finden. Egal, ob als Mechatroniker-Azubi hier in einem kleinen Handwerksbetrieb oder als künftiger Mediengestalter in Berlin", ergänzt Rainer Wilde und "wenn uns dann jemand Danke sagt, der durchgehalten hat und sich freut, dass wir das gemeinsam geschafft haben, ist das das Beste an diesem Job."
Erwartungen mit Spitzenwerten übertroffen
Seit 2017 schickt das Jobcenter nun regelmäßig 10er-Gruppen in das Projekt "Integration durch Praxis". Hier hat von den zumeist älteren Langzeitarbeitslosen kaum jemand einen Berufsabschluss oder eine Fahrerlaubnis, die man für viele Jobs braucht. Dazu kommen diverse persönliche Probleme. Trotz dieser schwierigen Ausgangslage haben es Rainer Wilde und seine beiden Kolleginnen geschafft, dass aus der ersten Gruppe 2017 acht einen Arbeitsvertrag bekamen (80 %). 2018 waren es sechs und damit 60 %. Bei einem Vermittlungsziel von 20 % haben die drei Jobcoachs damit nicht nur alle Erwartungen mehrfach übertroffen, sondern im Vergleich zu anderen Bildungsinstitutionen Spitzenwerte erreicht.
Klare Regeln, die unterstützen
Damit das möglich ist, gibt es am Anfang klare Regeln: Beginn ist um acht. Jeder kommt - fünf Tage die Woche, jeden Tag sechs Stunden und tut in der Gruppe bzw. mit dem Coach etwas Sinnvolles. Was das ist, wird vorher abgestimmt. Das ist für manche eine hohe Anforderung. Wer es früh nicht schafft, wird auch schon mal aus dem Bett geklingelt und notfalls abgeholt. Aber nicht öfter als drei Mal. "Wir machen das unterstützend, damit sie aus ihrer Bewegungsstarre herauskommen und die Kraft entwickeln an ihren Problemen zu arbeiten. Aber natürlich gibt es auch irgendwann Grenzen." berichtet Petra Janiszewski. Wenn Alkohol und andere Drogen im Spiel sind, wird dieses Problem vordringlich bearbeitet. Dafür schaltet das Team z. B. die Drogenberatungsstelle ein. Allein, den Status aller in der Gruppe festzustellen, erfordert viele Anstrengungen auf beiden Seiten. In den ersten Wochen, bevor überhaupt gemeinsam über berufliche und persönliche Kompetenzen, Stärken und Schwächen gesprochen werden kann, finden deshalb viele Gespräche über die aktuelle Situation statt. Die drei Kolleg*innen versuchen bei ihren Gesprächspartnern, alte Gedankenschleifen zu durchbrechen und Energie zu mobilisieren, mit der sie über die Brüche in ihrem Leben hinweg kommen. Dabei haben sie natürlich immer im Blick, dass es darum geht, wieder berufliche Perspektiven zu bedenken.
Mit Lebenserfahrung und Professionalität
"Trotz der professionellen Distanz und unterschiedlicher Bewältigungsstrategien merken unsere Gesprächspartner*innen natürlich, dass ihnen Menschen mit viel Lebenserfahrung gegenübersitzen", sagt Elke Glatzer. Hier wissen beide Seiten wo-von sie reden. Und wenn die Tür zugeht, bleibt alles Gesagte im Raum. Das schafft eine gute Basis und Augenhöhe. Vielleicht ist das einer der Schlüssel für die Projekterfolge der drei Seelower Coachs. Der Zweite ist, dass sich hier in der Stadt und in den umliegenden Dörfern jeder kennt.
"Ich glaube, ich kann in fast jedem Unternehmen anklopfen. Ich kenne die meisten, seit langem. Das ist ganz wichtig. Genauso wie unser guter Kontakt zum Jobcenter und Arbeitgeberservice hier", sagt Rainer Wilde. Die Unternehmen kennen das bbw und sie kennen die Coachs. "Wenn irgendwo eine Stelle frei ist, auf die jemand von uns passen könnte, reden wir mit dem Betrieb. Dabei ist absolute Ehrlichkeit nötig. Denn nur, wenn wir keine falschen Erwartungen geweckt haben, ist es hinterher kein Problem, wenn mal ein*e Praktikant*in nicht gepasst hat. Deshalb muss der Chef vorher genau wissen, was auf ihn zukommt. Sagt er: 'Kommt vorbei!', marschiere ich da hin - mit dem Teilnehmer oder der Teilnehmerin und dann kriegen wir meist auch den Praktikumsplatz und sie haben eine echte Chance auf einen Arbeitsvertrag - das ist ja das Ziel", erklärt Rainer Wilde. Das erste Praktikum sollte etwa zur Hälfte der Projektlaufzeit auf den Weg gebracht worden sein.
Kein Pardon, wenn jemand unsere Mühe untergräbt
Vorher haben die Jobcoachs bereits über berufliche Wünsche und Vorstellungen gesprochen. Auch fachliche und persönliche Kompetenzen, Stärken und Schwächen sind dann bereits analysiert und reflektiert sowie gemeinsam ein paar passende Stellen recherchiert. Wenn die Voraussetzungen und Wünsche mit einem Arbeitsplatzangebot zusammenpassen, können zwei jeweils bis zu sechswöchige Praktika angeschoben werden. Dabei zeigt sich, was geht und was nicht.
Bis ein Arbeitsvertrag auf dem Tisch liegt, geht es manchmal schnell, wie bei dem Wachmann neulich, der jetzt die Qualifikation für eine Anstellung in einer Abrissfirma absolviert und danach eingestellt werden soll. Da ging alles reibungslos. Aber es kann auch dauern. Hin und wie¬der gibt es auch Tiefschläge. Zum Beispiel, wenn plötzlich jemand sagt: ,Ich arbeite doch im Praktikum nicht umsonst.' Oder: ,Ich schreibe meine persönlichen Daten nicht in einen Praktikumsvertrag ...' Dann sind klare Worte gefragt. Für Rainer Wilde heißt das - nochmal reden: "Dazu kann man Argumente austauschen ... Natürlich wäre es grundsätzlich zu begrüßen, wenn Praktikumsarbeit von Unternehmen mit einem kleinen Beitrag vergütet würde, aber wir spielen hier bei der Wiedereingliederung von Langzeitarbeitslosen in einer anderen Liga. Es stimmt auch, dass viele in den Job nur mit Mindestlohn starten und, jeder von uns wünscht sich für die Teilnehmer*innen eine tarifliche Bezahlung. Aber, was soll man da machen. Wer lieber nur noch die Rente erreichen will oder mit solchen Ansagen unsere Arbeit untergräbt, verschwendet unsere Energie - da kenn' ich kein Pardon. Da versuchen wir lieber, für die Leute die doppelte Zeit und damit zwei Projektzyklen zu bekommen, die sich selbst eine Chance geben."
Trotz der Erfolgsrisiken gibt es viele positive Momente
Gerade war ein ehemaliger Teilnehmer da, den sie, als abgerechnet wurde, noch nicht mal mit in die Erfolgsstatistik aufnehmen konnten. Mitte Vierzig, lange arbeitslos mit handwerklichem Geschick. Nur leider mit kaum ermunternden Beurteilungen aus den Praktikumsfirmen. Zwischen den Zeilen fast entschuldigend der Hilferuf einer Baubrigade: Bitte nehmt ihn zurück! Ein Phleg¬matiker auf dem Bau, das können wir uns nicht leisten. Wo termingebunden auf Objektlohn gearbeitet wird, sind die Bedingungen und Kollegen manchmal rauh. "Teamarbeit und Bauaufträge im Akkord waren offenbar keine passende Umgebung für unseren Mann. Also haben wir überlegt, wo er relativ autark arbeiten kann und sind auf den Berufskraftfahrer gekommen", erklärt Rainer Wilde. Die werden überall in der Region gesucht und eine freie Stelle war im Handumdrehen gefunden. In punctoPünktlichkeit und Zuverlässigkeit gab es keine Zweifel und die Idee, allein auf der Landstraße mit dem Lkw unterwegs zu sein, gefiel dem Teilnehmer sofort. Die Frage war nur, sind die 7 500 Euro vom Jobcenter zu kriegen? So viel kostet die nötige Fahrerlaubnis - ein CE-Schein für bis zu 40-Tonnen-Lkws. Jedem im Team ist in solchen Situationen klar, dass es ein hohes Erfolgsrisiko gibt, weil niemand Garantien dafür geben kann, ob das Steuergeld dafür gut investiert ist ... Die Jobcoachs stehen in solchen Fällen nur mit Überzeugung und Vertrauen da. Deshalb hat das Jobcenter die Förderung auch bewilligt. "Doch dann passierte etwas, das gar nicht so ungewöhnlich ist, aber doch für einige Aufregung gesorgt hat: Wir haben tatsächlich mitansehen müssen, dass unser Mann die Fahrprüfung drei Mal wiederholen musste. Dieses Rauf und Runter - ohne Vertrauen geht da nichts. Das zerrt an den Nerven ... Aber heute hat er mir erzählt, dass er sie geschafft und einen Praktikumsplatz bei einer Spedition bekommt. Er sah so glücklich aus. Und es gibt sogar eine gute Chance auf Übernahme. Der hätte mich fast umarmt ...", sagt Rainer Wilde gerührt. Für ihn und seine Kolleginnen sind solche Momente großartig. Die kann man auf der Couch nicht haben.