"Wir wollen bei einem Weltmarktführer arbeiten, der guckt ganz genau hin."

Vorige Woche hat Siegfried Witte den dritten Würfel seines Lebens hergestellt. Er hat ihn nicht wie die beiden zuvor gesägt und gefeilt, sondern geduldig und wesentlich aufwändiger geschliffen. Denn der neue besteht aus einem ganz besonderen Werkstoff, der wesentlich leichter splittert, reißt oder abbricht - Glas. Als die Aufgabe gestellt wurde, hatte er gehofft, dass das ein Spaß sein könnte. Aber nein. Sie war natürlich völlig ernst gemeint - als praktischer Einstieg, bei dem Ausbilder viel über denjenigen erfahren, der versucht sein Wissen übers Messen, das Material und sein handwerkliches Geschick einzusetzen, damit exakt gleichlange Seiten und rechte Winkel entstehen. Dass er das kann, hatte Siegfried Witte schon vor vielen Jahren in seiner Feinmechaniker-Lehre bewiesen und Jahre später in der Umschulung zum Tischler. Jetzt musste er Glas schleifen und wurde daran erinnert, dass diese Übung bei ihm jedes Mal den Effekt hatte, sich auf das Metall oder das Holz einzulassen. Und jetzt auf das Glas. Sie bringt ein Gefühl für den Werkstoff, an dem er in den kommenden Jahren arbeiten möchte.

In einem Hightech-Unternehmen arbeiten - das ist nochmal was

"Der Ausbilder sieht nicht nur, wie man das Material anfasst, sondern wie man an die Dinge ran geht", sagt Siegfried Witte. Natürlich weiß er, worauf es ankommt: Das Maß muss stimmen. Ist man zu forsch, sind die Kanten krumm, die Ecken rund. Und was einmal ab ist, kann man nicht wieder ansetzen. Bei Glas oder Kristall wird dann das Licht nicht wie gewollt gebrochen bzw. gebündelt. Hier sind absolute Präzision und Vorsicht die Mütter der Glaskiste. Denn Glas und Kristall sind besonders empfindlich. "Es ist faszinierend, wie daraus z. B. Handydisplays, Linsen für Lasertechnik, Mikroskope oder Weltraumtechnik gefertigt werden und welcher Aufwand für die Bearbeitung nötig ist. Aber, selbst wenn es nur ein kleiner Teil davon ist, den ich selbst in die Hände bekommen würde, möchte ich gern bei Berliner Glas daran mitarbeiten. Das ist nochmal was", ergänzt er. Der 58-Jährige glaubt fest an seine Chance, so wie die anderen 21 aus seiner Gruppe, die schon fünf Monate praxisbezogen u. a. Mathe und Physik für Materialkunde, Rundoptik/ Zylinderfertigung, Planoptik oder Fertigungstechnik u. Ä. im bbw gelernt und jede Woche einen Praxistag in der Ausbildungswerkstatt von Berliner Glas absolviert haben. Die schriftliche Prüfung ist ebenfalls erledigt. Jetzt steht nur noch ein Praxismonat bevor. Die meisten Teilnehmer*innen haben bei der Berliner Glas Gruppe einen Praktikumsplatz. Weniger als eine Handvoll sind bei kleinen und mittelständischen Unternehmen (KMU) der Branche untergekommen. Wer am Ende bleiben darf, wird bis zum Ende des Betriebspraktikums wahrscheinlich offen sein.

Quereinsteiger fit machen für den Berufseinstieg in eine anspruchsvolle Branche

Zweifellos ist es für jedes Unternehmen existenziell, dass beim Personal das Fachliche stimmt. Wenn sich aber Hightech-Unternehmen aus Fachkräftemangel entscheiden, Quereinsteiger ins Unternehmen zu holen, die mit einer fünfmonatigen Basisqualifikation, statt mit einer dreijährigen Berufsausbildung an ihre künftigen Arbeitsplätze kommen, sind dafür viele Hürden zu nehmen. Intern und extern. So war es auch bei Berliner Glas. Aber mit Blick auf die Entwicklungschancen und die Fachkräftesituation in Berlin und Umgebung entschieden sich Geschäftsführung und Personalabteilung Ende 2017 für den Spagat und nahmen mit der Agentur für Arbeit Berlin Süd Kontakt auf. So entstand die Idee, mit einem erfahrenen wirtschaftsnahen Bildungspartner gemeinsam ein neues Fortbildungsprojekt anzuschieben. Es sollte einerseits vom Qualifikationsprofil her den speziellen Bedarf der Initiatoren berücksichtigen, schnell genug Fachkräfte qualifizieren und gleichzeitig auch den kleinen und mittleren Unternehmen der Branche mit ähnlicher Personalnot Absolvent*innen zugänglich machen. Letztlich würde man mit dem Projekt sogar erweiterungsfähige Ausbildungskompetenz in die Region holen, die es bisher hier nicht gibt. Mit dieser Herausforderung legte das Projekt trotz vieler unbekannter Größen einen echten Quickstart hin, denn neben der Frage, ob es überhaupt gelingen würde die nötigen Inhalte aus einem, vielleicht mehreren Ausbildungsberufen auf ein kurzes, kompaktes Format bringen zu können, war am Anfang völlig offen, ob sich dafür genug geeignete Arbeitsuchende motivieren lassen.

Viel Technik, Licht und ein modernes Arbeitsumfeld - Optik-Branche mit exotischem Reiz

Für Siegfried Witte, der mit nahezu perfekt passenden, wenn auch lange zurückliegenden Berufserfahrungen die Einladung zum Info-Tag der Agentur für Arbeit Berlin Süd bekam, klang das Angebot wie eine echte Gelegenheit. Für ihn sollte der fünfmonatige Kurs zur "Fachkraft Optik" eine Auffrischung seiner Kenntnisse aus der Berufsausbildung sein. Aber vor allem hatte auf ihn und alle anderen, die später tatsächlich in der Fortbildung saßen, die Aussicht auf eine Tätigkeit in der Optik-Industrie einen gewissen Reiz ausgeübt. Die Arbeit in einem Optik-Unternehmen, das wäre nicht das Übliche. Selbst, wenn es, wie Viele am Anfang dachten, ums Brillengläser-Schleifen gegangen wäre, hatten sie Bilder mit viel Technik, Licht, Sauberkeit und einem modernen Arbeitsumfeld vor Augen. Dass es am Ende so ausgefallene Produkte sein würden wie Linsen für Weltraumtechnik, das setzte den Erwartungen noch die Krone auf. Und all das fand sich dann ja auch in der überaus informativen und sympathischen Präsentation der Berliner Glas Gruppe bei der Info-Veranstaltung wieder. Das insgesamt attraktive betriebliche Leistungspaket von Berliner Glas und das Fünf-Monate-Kursangebot dazu, das Arbeitsagentur und bbw kurz umrissen hatten, konnte offenbar reihum überzeugen. Es sprach zweifellos für gute Aussichten auf einen beruflichen Neustart, den sich viele der Teilnehmer*innen lange gewünscht hatten. Von den damals mehr als 180 Interessent*innen schrieben sich tatsächlich etwa 90 direkt zum Vorbereitungskurs mit Eignungsfeststellung im Oktober 2018 ein. Das allein war schon ein unerwarteter Erfolg für die Projektpartner. Dreiundzwanzig Männer und Frauen kamen schließlich am 5. November 2018 im bbw Bildungszentrum Berlin-Karlshorst, in einer der heterogensten Gruppen, die sich je im bbw auf denselben Abschluss vorbereiten wollten, an. "Wir waren vom Hilfsarbeiter, über die Bürokraft, den Tontechniker bis zum promovierten Biologen eine interessante Mischung - alle krass verschieden. Auch vom Alter sehr unterschiedlich - Mitte 20 bis Ende 50. Und es gab fünf verschiedene Nationalitäten in unserer Gruppe. Aber es hat gut funktioniert. Wir haben uns gegenseitig motiviert und unterstützt", sagt Siegfried Witte und ergänzt: "Dass jeder von uns bei Berliner Glas einen Job haben wollte, war von Anfang an klar und Inhalt in jedem dritten Pausengespräch. Dass das nicht ganz so einfach sein würde und doch nicht jeder die Chance haben würde, war für mich nicht überraschend. Insofern fanden es die meisten von uns gut, dass wir im Laufe der Zeit auch andere Unternehmen der Branche kennengelernt haben."

Nicht zu kurz, nicht zu lang - fünf Monate Fortbildung zum Ausprobieren und Bleiben

Für ihn war der Kurs nicht zu kurz, nicht zu lang, von den Anforderungen her schaffbar, gerade richtig für Menschen, die lange aus dem Beruf raus sind, das Lernen wieder lernen müssen, ohne daran zu verzweifeln - konzipiert zum Ausprobieren und Bleiben. Mit einem guten Mix an Theorie und Praxis. Das Konzept für die Fortbildung, die es so noch nicht gab, war schließlich für das Projektteam eine Aufgabe unter Zeitdruck und eine Fleißarbeit. Hier musste jeder die Teile erledigen, für die er Experte ist. So hat Berliner Glas die passenden Ausbildungsinhalte aus dem Rahmenstoffplan des Feinmechanikers ausgewählt und auf die Produktion in der Optik-Industrie angepasst. Gemeinsam mit dem bbw und der Arbeitsagentur wurde das Lernszenario abgestimmt, so dass alle gewünschten Theorie- und Praxisanteile enthalten, aber von der Zielgruppe auch erlernbar sind. Und schließlich musste auch ein Vorkurs konzipiert und geplant werden. Er sollte sichern, dass nur geeignete Interessent*innen an der Fortbildung teilnehmen. Am Ende musste alles in geeignete Finanzierungsstrukturen passen, zertifiziert und koordiniert werden. "Das alles in etwas mehr als einem halben Jahr zu schaffen, war eine beachtliche Leistung. Aus unserer Sicht hat die Zusammenarbeit wunderbar funktioniert. Nun hoffen wir auf ein positives Ergebnis des Projekts für uns. Wenn wir wissen, welche unserer Stellen wir mit passenden Kandidaten besetzen können, wird sich zeigen, ob sich die Mühe gelohnt hat. Jetzt warten wir auf die Statements unserer Abteilungsleiter, die mit den Praktikanten arbeiten", fasst Astrid Freiding die Projekterfahrung von Berliner Glas zusammen. Einer, der hofft, dass die Wahl auch auf ihn fällt, ist Siegfried Witte. Er ist froh, in der Praktikumsgruppe von Berliner Glas zu sein.

Wieder Mathe und Physik zu lernen kann sogar Spaß machen - mit dem richtigen Dozenten

Dafür hat er sich von Anfang an reingehängt, wieder Mathe und Physik gelernt, mitgearbeitet, sich in der Gruppe engagiert. "Dafür bin ich durch zwei Filter gelaufen - mit der Eignungsfeststellung in den Vorbereitungswochen und werde mir jetzt im Abschlusspraktikum Mühe geben. Wir wollen bei einem Weltmarktführer arbeiten, da ist klar, der guckt ganz genau hin", erklärt er. Dafür hat er auch als Lebens- und Berufserfahrener die zwei Tage "Psychologie" am Ende, die vor allem Bewerbungstraining, Kommunikation und Verhalten im Team behandelt haben, gelassen ertragen, sieht mit ehrlicher Großzügigkeit darüber hinweg, dass es den einen oder anderen Wechsel von Ansprechpartnern im Ausbilderteam gab und dass, wie in einem Modellprojekt häufig, hin und wieder Unklarheiten auftreten. "Für uns ist es letztlich nicht ganz so wichtig, ob das Praktikum am 2. oder 4. anfängt. Alles kein Problem. So ist das in einem ersten Durchlauf. Das wussten wir ja. Ich bin damit, wie es für mich gelaufen ist, sehr zufrieden. Das bbw Team hier und die Ausbilder im Betrieb waren immer ansprechbar und hilfsbereit und haben die Dinge geregelt. Mehr habe ich gar nicht erwartet", meint Siegfried Witte. Jetzt, vor dem Praktikum, hört man fast schon etwas Wehmut, dass die Zeit in der Gruppe jetzt vorbei ist. "Die Unterrichtstage waren selbst für mich, der das meiste ja in der Berufsausbildung schon mal gehört hatte, spannend und wichtig. Und ich weiß, dass sie den meisten in der Gruppe viel gebracht haben. Dass vor allem die von vielen gefürchteten Stunden in Mathe und Physik für alle gut verständlich waren, ist das Verdienst unseres tollen Dozenten, Herrn Wurst. Er ist Physiker und ein hervorragender Lehrer. Er hat es vor allem geschafft, jeden mitzunehmen und dafür gesorgt, dass alle drangeblieben sind. Er hat dafür gesorgt, dass wir an den Praxistagen in der Ausbildungswerkstatt so etwas wie ein theoretisches Gerüst an Wissen für das hatten, was uns die Ausbilder in den Werkstätten praktisch vermittelt haben", sagt Siegfried Witte. Er fühlt sich gut vorbereitet und ist gespannt auf seinen künftigen Arbeitsplatz.

Nicht nur das Fachliche muss stimmen - es geht auch um Sorgfalt und Vertrauen

Wie die anderen Unternehmen der Branche ist die Berliner Glas Gruppe in sehr dynamischen Märkten aktiv. Berliner Glas produziert z.B. Optik-Module und Produktkomponenten, teilweise auch ganze Systeme für die Halbleiterindustrie, die Medizin-, Laser- und Weltraumtechnik. Dazu gehören Optiken für die Herstellung von Handydisplays für die lasergestützte Weltraumkommunikation oder die Umweltbeobachtung aus dem All, Spiegel und Linsen in diversen Formen und Größen. In einigen Produktbereichen sind die Unternehmen der Gruppe Weltmarktführer. Deshalb gibt es strenge Sicherheitsbestimmungen. Dr. Mathias Kirchgatter, der Leiter der technischen Ausbildung erklärt: "Wir sind ein Hightech-Unternehmen, in dem ein Produkt schon mal 40-50 Wochen durch verschiedene Abteilungen unterwegs ist und das seinen Wert hat. Wir arbeiten auch mit Produktinnovationen und geschützten Design-Entwürfen, die noch niemand im Markt kennt. Deshalb kommt es bei jedem einzelnen unserer Mitarbeitenden nicht nur auf Technikverständnis und handwerkliche Fähigkeiten an, sondern auch darauf, dass wir ihm vertrauen können, dass wir uns auf seine ganz besondere Sorgfalt im Umgang mit Maschinen und Material und auf die Einstellung zu unseren hohen Qualitätsanforderungen verlassen können. Deshalb gibt es jetzt in den vier Wochen Betriebspraktikum unterschiedliche Ziele für uns: z.B. gucken wir auch auf die Beachtung spezieller Qualitätsvorschriften oder die Umsetzung der Ziele zur Zuverlässigkeit im Team - die sind in einem Betrieb mit Schichtarbeit besonders wichtig. Dabei werden wir die Praktikantinnen und Praktikanten im Betriebspraktikum eng begleiten und uns die Zeit nehmen, auch in Bezug auf die Softskills aufmerksam zu sein, so dass wir eine gute Wahl treffen können. Ich bin mir sicher, dass wir am Ende des Praktikums die richtigen Kursteilnehmer*innen übernehmen werden."